Metal & Gothic - Porträts aus der Szene: Teil 1

18.04.2008 | 16:49

Alljährlich im Sommer strömen Tausende von Musikfans in alle möglichen Orte in Deutschland, die teils niemand kennen würde, fände dort nicht ein Festival statt. Nach Festivalende verschwinden die Protagonisten wieder von der Bildfläche und sind im Alltagsgeschehen kaum mehr wahrzunehmen. Ist das die Szene, oder findet die vielleicht (auch) noch ganz woanders statt? Unsere neue Reihe "Metal & Gothic – Leserporträts aus der Szene" spürt dieser Frage exemplarisch nach. Wir suchen Eure Beteiligung, stellen Euch aber schon heute eine erste Persönlichkeit vor.

Unsere Geschichte beginnt in Königswinter am Rhein in einem Mehrfamilienhaus in bürgerlicher Wohngegend. Hier lebt Birgit Simon, 52 Jahre alt, kinderlos, aber in zweiter Ehe verheiratet mit Hans, einem Chemietechniker, der seine Freizeit damit verbringt, historische Comicgeschichten zu entwickeln. Die große Wohnung der beiden ist mit flauschigen Teppichen ausgelegt, und in der Mitte des Wohnzimmers dominiert ein Clan munterer Nymphensittiche in einer Voliere das Geschehen.

Birgit ist etabliert. Seit Jahren ist sie als Angestellte in einer Bundesbehörde beschäftigt und konnte sich hier von einer kleinen Sekretärin in eine Position mit lebhafter Reisetätigkeit im europäischen Ausland hocharbeiten. Ein stressiger Job, und trotzdem ist Birgit irgendwie jugendlich geblieben. Ihre langen, schweren braunen Haare trägt sie immer noch offen. Eine Haarpracht, geeignet zum Headbanging - und damit wären wir auch beim Thema. Denn Birgit bangt auch. Und zwar zu allen Spielarten des Heavy Metal. "Wer davon keinen Schwindelanfall bekommt, soll es tun", ist ihr augenzwinkerndes Statement. "Ich vergleiche das Headbangen mit einem Balzverhalten, z.B. wie man das bei Tieren häufig antrifft."

"Metal ist faszinierend durch seine Lautstärke: energiegeladene Musik, die sakralen Musikpassagen, die Hymnen, die häufig die Musik einleiten, die Songs, die nach der Einleitung explodieren", erklärt Birgit ihre Vorliebe für diese Musik, und ihre Begeisterung ist ihr immer noch ungebrochen anzumerken. Besonders fasziniert ist sie dabei vom Black Metal, der ihrer Auffassung nach eine spezielle Atmosphäre verbreitet, die von hoffnungslosen, depressiven, dunklen und menschenverachtenden Grundtönen geprägt ist, umrahmt von einer mystisch-okkulten, dramatischen und emotionsgeladenen schweren Musik verbunden mit sakralen und hymnenartigen Passagen. "Die Symbolik des Black Metal erscheint im gesellschaftlichen Bild non-konform, mit ihrem Outfit, mit ihrem gruftig dargestellten Gebrüll, den verzerrten Schriften und dem Corpsepainting", analysiert Birgit. "Es werden Tabu-Themen angesprochen. Das gerade unterdrückt unsere verklemmte Gesellschaft. Der Wahrheitsausdruck fasziniert mich am Metal."

Dabei hat Birgit ihre intensive Liebe zur Musik schon früh entdeckt. In ihrer Jugend in den sechziger Jahren hat sie die WALKER BROTHERS gehört, später die BEE GEES. Aber dann sollte es schon bald härter werden. "Irgendwie war mir das zu weich, deshalb wurde ich damals der leichten Muse abtrünnig und begab mich zu URIAH HEEP und DEEP PURPLE." Später folgten der Philadelphia-Sound, Reggae, die Neue Deutsche Welle, Patti Smith, U2, Punk und am Ende eben Metal. "Und da bin ich nun angekommen und weigere mich, irgendeine andere Musikrichtung anzunehmen," beharrt sie fast stur und mag damit von manch einem Altersgenossen der Generation Ü50 vielleicht als ein wenig engstirnig erlebt werden. Birgit sieht das anders. Sie stagniert nicht bei einer Band, sondern verfolgt immer noch aktuelle CD-Veröffentlichungen auf dem Metalmarkt und das Entstehen neuer Subgenres wie Folk und Viking Metal. "Momentan ist aber NIGHTWISH meine Lieblingsband", lässt sie wissen.

Als Birgit zum Metal findet, ist sie bereits 31 Jahre alt. Das ist im Oktober 1986. Sie hat eine schwierige Lebensphase, geprägt von negativen Belastungen, Isolation und Depression hinter sich. Zu dieser Zeit lebt Birgit aus beruflichen Gründen in London, hat gerade ihre Scheidung hinter sich und sieht sich einem starken Leistungsdruck ausgesetzt. "Es war nicht einfach, sich in einer Megastadt wie London durchzukämpfen", erinnert sich Birgit. "Es verlangte großes Umdenken unter anderem am Arbeitsplatz. Das kalte und isolierende Arbeitsklima, die ganz andere Lebensweise der Stadt. Abgesehen von der englischen Sprache, die ich zum Glück heute noch fließend beherrsche, kam ich mir vor, wie eine menschliche Enklave in einer Riesenstadt. Zusammengefasst war mein ganzer Lebensweg von Ignoranz, Depression, Nicht-ernst-genommen-werden und unterdrückter Aggression begleitet. Kein Wunder, dass ICH den Metal entdeckte. Er ist für mich eine Form von Lebenskampf und Selbsterhalt, Spannungsreduktion, Lebensfreude, Energie und des Sich-wieder-selber-spürens". Da verwundert es nicht, dass Birgit sich in jener Zeit auch mit der Kampftechnik des Taekwondo befasst hat. Die Kampfsporttechnik hat sie in den Metal-Tanz integriert. "Es passt hervorragend", findet sie und sieht Parallelen zwischen Kampftechnik und Metal, "weil Metal für mich persönlich Kampf und Energie bedeutet!"

Ähnlich positive Erfahrungen verbindet Birgit mit Metal-Konzerten, die sie bis zum Ende ihres dritten Lebensjahrzehnts regelmäßig besucht hat. Das Alleinsein in der Gemeinschaft hat bei ihr ein Solidargefühl mit der Szene ausgelöst, das ihre Einsamkeit etwas aufgehoben hat. "Konzerte sind immer noch mein Ding", erklärt Birgit, die auch heute noch, wenn auch etwas seltener auf Live-Veranstaltungen zu sehen ist, "wenn man nicht so lange stehen müsste oder die Sicht zur Bühne versperrt ist. Ich habe jedenfalls nach Konzerten immer das Gefühl, für einen gewissen Zeitraum mein Lebensgefühl zurückzugewinnen".

Auch in Birgits Leben gibt es noch andere Bezugspunkte neben der Musik. Ihr Leben lang hat sie Zeit und Energie in ihre Weiterbildung investiert, auf dem zweiten Bildungsweg Abitur gemacht und sich später zum Studium von Sozialwissenschaften, Psychologie und Rechtswissenschaften an der Fernuni Hagen eingeschrieben. Ihr Studium hat sie berufsbegleitend abgeschlossen und am Ende als Triumph sogar ihre Magisterarbeit zum Thema Heavy Metal verfasst. Unter dem Titel "Heavy Metal - Leidenschaft, Lebensprinzip und Katharsis" hat Birgit diese Arbeit als empirische Studie im Shaker-Verlag veröffentlicht und dabei die Beweggründe untersucht, warum Menschen sich für Heavy Metal begeistern. Gerne hätte sie noch eine Promotion zum Themenkreis Metal draufgesetzt, aber keinen Professor gefunden, der sich getraut hätte, eine derartige Untersuchung zu betreuen. "Vielleicht sind das Berührungsängste", vermutet Birgit, die sich mit der ihr angebotenen Erklärung, dass es zum Metal kein Forschungsinteresse gebe, nicht recht zufriedengeben kann. Dennoch recherchiert sie jetzt zu anderen gesellschaftlich vielleicht relevanteren Problemstellungen, befasst sich mit den Widersprüchlichkeiten in unserem Gesundheitssystem und den Ursachen von Amokläufen und Gewalt in der Wohlstandsgesellschaft. Ob dies alles noch einmal in eine wissenschaftliche Arbeit mündet, weiß Birgit selbst noch nicht, aber sie wird nicht müde, kleine Fenster ihrer sparsamen Freizeit für die Lektüre sozialwissenschaftlicher Quellen offenzuhalten.

Neben dem wissenschaftlichen Interesse gibt es aber auch eine praktische Seite bei Birgit, die sie allerdings ebenfalls immer wieder eher in die soziale Richtung verschlägt. So hat sie vor einigen Jahren eine Suchthelferausbildung absolviert und sich mit den Problemen alkohol- und drogenabhängiger Menschen auseinandergesetzt. "Ich habe versucht, bei einem regionalen Verein in der Suchthilfe ein wenig einzusteigen, was sich aber als schwierig gestaltete", resümiert Birgit und engagiert sich stattdessen heute als ehrenamtliche Richterin am Arbeitsgericht, wofür sie von der Gewerkschaft vorgeschlagen wurde. "Ich identifiziere mich gerne mit Minderheiten, die häufig Vorurteilen ausgesetzt sind, da ich dies als ungerecht empfinde", erläutert Birgit ihr ehrenamtliches Engagement. "Dazu gehört allerdings auch der Metal, der immer noch starken Vorurteilen ausgesetzt ist. Viele glauben immer noch, dass im Metal nur 'böse Texte' gesungen werden. Ich verteidige gerne die depressiven Menschen, die gesellschaftlich häufig ausgeschlossen werden, auf Unverständnis stoßen, aber Hilfe benötigen."

In diesem Zusammenhang kritisiert Birgit die Ethik der heutigen Zeit, die sich ausbreitende Ignoranz der Menschen untereinander, Gewinnsucht und Gier der Unternehmen auf Kosten von Arbeitsplätzen, Machtmissbrauch von Vorgesetzten und intrigantes Verhalten von Kollegen, aber auch Unehrlichkeit und Oberflächlichkeit und ganz besonders die Gesundheitsreform. Diese ist für Birgit, die sich durchaus als politisch interessierter Mensch versteht, allerdings derzeit ein rotes Tuch. "Das sollte mit mir nicht diskutiert werden, da zieht jeder den Kürzeren", ist ihre kampfeslustige Ansage hierzu. Der kritische Blick in die Arbeitswelt hat auch Birgits Haltung zur eigenen Karriere geprägt. "Wenn man Karriere mit viel Geld verdienen vergleicht und möglichst schnell die Leiter in der Hierarchie nach oben klettern möchte, dann ist mir Karriere nie wichtig gewesen", erklärt Birgit. "Im Vordergrund stehen bei mir die Idee und der Anreiz, den Horizont zu erweitern und im Lernprozess zu bleiben, eben der Spaß an der Arbeitstätigkeit."

So möchte sie eher erreichen, mit ihren Stärken und Schwächen ernst genommen zu werden. Anerkennung ist ihr schon wichtig, aber auch Respekt und Ehrlichkeit. Dass ihr die Lebensfreude gerade im Arbeitsbereich zuweilen ziemlich abhandengekommen ist, daraus macht Birgit keinen Hehl. Ausgleich in derartigen Krisenzeiten findet sie in menschenleerer Natur, beim Sport, insbesondere auch beim orientalischen Bauchtanz, und eben doch wieder beim Metal als gleichsam spirituelle Quelle.

So zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass sich die in mancherlei Hinsicht als etabliert geltende Frau den kritischen Blick auf ihre Lebenswelt bewahrt hat. Die Liebe zum Metal und die Identifikation mit der Szene belegen, dass hier wohl kaum schlicht von einer Phase der Jugendsubkultur die Rede sein kann. Vielmehr scheint Birgit ein Beispiel dafür zu sein, dass sich Heavy-Metal-Lifestyle und bürgerliche Existenz auch in der zweiten Lebenshälfte keinesfalls ausschließen.

Redakteur:
Erika Becker

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