Metal & Gothic - Porträts aus der Szene: Teil 4
20.11.2008 | 19:17An einem nasskalten Samstagnachmittag mache ich mich auf den Weg, um in
Deutschlands romantischer Studentenstadt Heidelberg Daniil zu treffen.
Als Metalfan, der sich mit dem, was wir gerne "die Szene" nennen,
durchaus identifizieren kann, hat er sich auch schon manches Mal
gefragt, was eigentlich die Metalfans in ihrer Gesamtheit ausmacht und
wo sie in der Alltagsgesellschaft stecken. Diese Überlegung ist dann
auch Daniils Motivation, sich mit mir darüber zu unterhalten, was ihn
selbst ausmacht.
Der junge Mann, der mich in einem T-Shirt seiner Lieblingsband HAMMERFALL am Bahnhof empfängt, blickt bereits auf eine interessante Lebensgeschichte zurück. 1994, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, wandert Daniil mit seinen Eltern in die Bundesrepublik Deutschland ein. Die Familie lässt sich in Niedersachsen nieder, was unter anderem dazu führt, dass Daniil, der damals 13 Jahre alt ist und keine Silbe Deutsch beherrscht, heute das perfekteste und akzentfreieste Hochdeutsch spricht, das die Republik zu bieten hat.
In einer Heidelberger Studentenkneipe berichtet mir Daniil von seinen Migrationserfahrungen, die am Anfang hart waren, letztlich aber ohne größere Schwierigkeiten verlaufen sind. So erinnert er sich an einen als hilfreich empfundenen Deutschkurs, den seine Schule extra für russlanddeutsche Kinder anbietet, und glaubt auch heute noch, dass der Wille, sich zu integrieren und die deutsche Sprache zu erlernen, ein wichtiger Schlüssel für sein Vorankommen in Deutschland gewesen ist. In der Schulzeit hat Daniil auch seine ersten Berührungspunkte mit dem Metal. "Ich habe mal in der neunten Klasse angefangen, Rammstein zu hören", berichtet er, "damals noch auf Kassette, die ich mir über 'nen schrottigen Walkman angehört habe, weil ich noch keine Musikanlage besaß. Aber so richtig fing das in der zehnten Klasse an, meine erste Platte war "Mechanical Animals" von Marilyn Manson. Parallel hat mir mein bester Freund zur Schulzeit Metallica näher gebracht. Dann ging's schnell weiter, mit Hammerfall, HIM... und drin war ich!"
2001 baut Daniil sein Abitur und entschließt sich, Physik zu studieren. Der Umstand, noch nicht über die deutsche Staatsbürgerschaft zu verfügen, bewahrt ihn vor dem Wehrdienst und schenkt ihm etwas Zeit. Mit Hilfe eines Uni-Rankings entscheidet er, sich an der Heidelberger Uni einzuschreiben, und hat dies bis heute nicht bereut. Der Integrationsprozess in der Studentenstadt geht diesmal viel schneller als Jahre zuvor in der niedersächsischen Kleinstadt. Daniil findet Kommilitonen, mit denen er die gemeinsame Begeisterung für den Metal teilt, und genießt die Freiheiten des Studentenlebens. Inzwischen hat er sein Diplom in der Tasche und arbeitet an seiner Promotion. Dass er im Institut an der Uni zuweilen in den einschlägigen Metalshirts auftaucht, stört dort niemanden. "Physikstudenten entsprechen sowieso meist nicht den gängigen Modestandards", sagt er und so stört es auch ihn keinesfalls, dass sein Professor zuweilen interessiert-belustigt seine T-Shirts kommentiert.
Ich frage nach den Plänen für die Zeit nach der Promotion. Da wird Daniil sich entscheiden müssen, ob er an der Uni bleibt und sich mit Forschung beschäftigt oder eine Stelle in der freien Wirtschaft sucht. Das weiß er noch nicht und ich gewinne den Eindruck, als habe er es damit auch noch nicht so eilig. "Ich genieße die Freiheiten des Studentenlebens", bekennt er und räumt ein, in dieser Zeit auch ein wenig das nachzuholen, was die meisten Altersgenossen schon in der Pubertät ausgelebt haben. Der Migrationsprozess hat ihn seinerzeit zumindest in dieser Hinsicht eingeschränkt. "Es hat eben doch bis Anfang zwanzig gedauert, bis ich hier wirklich angekommen bin".
Seit 2005 verfügt Daniil über die deutsche Staatsbürgerschaft, gleichsam der letzte Schritt zur Vollendung des Integrationsprozesses. Dass er die russische nicht aufgeben muss, verschafft ihm ein wenig Sicherheit. Wir kommen auf das Thema Politik zu sprechen und ich möchte wissen, ob Daniil, der als Neunjähriger den älteren Bruder in der russischen Punk-Szene erlebt hat, sich mit der heutigen deutschen Parteienlandschaft identifizieren kann.
"Ich würde mich schon eher links von der Mitte einordnen", erklärt Daniil, "aber vielleicht bin ich durch mein Physikerdasein auch sehr pragmatisch und übernehme nicht alles, was auf der linken Seite als populär gilt." Letztlich kann sich Daniil so recht mit keiner der großen Volksparteien identifizieren. Das demokratische Wahlrecht war dementsprechend für die Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft auch nicht das Wichtigste, dennoch empfindet sich Daniil als politisch interessiert und hat seitdem an allen Wahlen teilgenommen.
Was aber ist das Wichtigste für Daniil? Was macht ihn aus, womit identifiziert er sich am meisten? "Zu allererst ist da mein persönliches Umfeld, also meine Freunde, die Familie und auch die Prägung durch meine Herkunft", resümiert Daniil, "aber auf jeden Fall auch mein Beruf. Der trägt sehr stark zu meinem Selbstverständnis bei. Aus dem Bewusstsein, im Studium und mit der Promotion schon etwas Eigenes geleistet zu haben, daraus schöpfe ich viel an Selbstachtung." Ja, und dann kommt natürlich auch die Zugehörigkeit zur Metalszene ins Spiel. Daniil empfindet sich selbst als Teil dessen und genießt das auch. Andere Musik hört er kaum. Ein zu vernachlässigender Bezug zum Achtziger Pop und zum Jazz findet sich nicht einmal in Daniils CD-Regal wieder. Hingegen besteht der harte Kern seines Freundeskreises doch aus Metalfans, und der gemeinsame Besuch von Events in der Metalszene und das Hören der Musik nehmen einen großen Raum ein. Daniil gehört dann auch zu jenen, für die das WACKEN:OPEN:AIR zu den ausgeprägten Höhepunkten des Jahres zählt. Schnell gerät er ins Schwärmen, wenn er sich an den letzten Aufenthalt auf dem Festivalzeltplatz in Wacken erinnert. Was er dort mit dem Freundeskreis erlebt, ist ebenso wichtig und macht für Daniil einen ebenso erheblichen Teil des Gemeinschaftserlebnisses aus wie das Abfeiern der Bands vor den Bühnen. Angesichts dieser Schwerpunkte in seinem Leben verschwendet Daniil mit seinen 27 Jahren noch keinen Gedanken an das Thema Familiengründung.
"Es mag vielleicht egoistisch klingen, aber ich finde, ich habe noch nicht genug von der Welt gesehen und gehe einfach noch zu gerne auf Festivals und Konzerte, um mich auf Familiengründung zu konzentrieren. Und um die Verantwortung für ein Kind zu übernehmen, soweit bin ich noch nicht." Und so scheint die Musik also eine wichtige Quelle der Inspiration für Daniil zu sein. Spiritualität im religiösen Sinne hingegen ist ein Thema, mit dem der angehende Doktor nichts anfangen kann. Aufgewachsen in der atheistisch geprägten Sowjetunion, ist Daniil von Glaubensfragen weitgehend verschont geblieben. Und auch die jüdische Prägung seiner Mutter, die sich nach der Emigration heute in einer jüdischen Gemeinde in Niedersachsen engagiert, hat Daniil weitgehend unbeeinflusst gelassen. Als Physiker ist Religion für ihn überhaupt nicht wichtig. "Ich respektiere, wenn andere Menschen glauben, kann mit der Einstellung aber nichts anfangen". Mit der Institution der christlichen Kirche tut sich Daniil dann schon etwas schwerer: "Ich finde es unglaublich, dass im einundzwanzigsten Jahrhundert eine Institution, die mit unseren sonstigen Vorstellungen von Natur und Umwelt absolut nicht vereinbar ist, soviel Macht hat. Die Kirche und andere religiöse Institutionen sind verantwortlich für unendliches Leid, das sie im Laufe der Menschheitsgeschichte angerichtet haben. Ich hab die Meinung, dass die Kirche höchstens eine rein karitative Organisation sein soll. Auf keinen Fall darf sie Menschen ihre Form von Moral aufzwingen oder vorschreiben."
Mit der Erörterung dieser ernsthaften Themen ist der Nachmittag im Heidelberger Studentencafe schnell vorüber gegangen. Daniil zieht es zum Bahnhof, weil er die nächsten Tage in Stuttgart verbringen will. Dort winkt am Montagabend ein Metalkonzert mit DARK TRANQUILLITY. Am Dienstag wird er erst spät im Institut an der Uni erscheinen...
- Redakteur:
- Erika Becker